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Die Piraten, das BGE und die Demokratiekultur

Dezember 6, 2011 55 Kommentare

Der ein oder andere dürfte mitbekommen haben, dass sich die Piraten am Wochenende in Offenbach mit einer knappen 2/3-Mehrheit zum BGE bekannt haben. In meinem Twitter-Stream konnte man lesen, dass mich dieser Beschluss ziemlich in Rage versetzt hat und ja, ich hatte auch eines dieser bayrischen T-Shirts an. Es war einfach die einzige Möglichkeit, die Frustration zum Ausdruck zu bringen, ohne brüllend in der Gegend herum zu laufen. Zeitweise habe ich mit dem Gedanken gespielt, mein Amt als Vorsitzender der Piraten in Baden-Württemberg aufzugeben, da ich mich mit der Entscheidung, den Gründen dafür und der Art und Weise der so „progressiven“ Politik überhaupt nicht mehr identifizieren konnte. Von einem Moment auf den anderen war das irgendwie nicht mehr meine Partei, in die ich seit 2009 quasi meine ganze Freizeit investiere.

Ich möchte mit diesem Blogpost beschreiben, was genau mich aufgeregt hat und immer noch ärgert. Mich quasi auskotzen, bevor wir wieder zur Tagesordnung übergehen können. Das Projekt Piratenpartei, in das wir alle so wahnsinnig viel Zeit und Arbeit gesteckt haben, ist zu wichtig, um es wegen dieser einen Entscheidung einfach wegzuwerfen. Dafür sind mir Bürgerrechte, Transparenz, Bürgerbeteiligung, Umwelt, eine neues Urheberrecht, Bildungsthemen und ein neuer Politikstil einfach zu wichtig. Wir sollten daher versuchen, die Partei nicht zu spalten, sondern irgendwie einen Kompromiss finden, die Gruppen wieder zusammen zu bringen.

In Chemnitz gab es einen ähnlichen BGE-Antrag schon einmal. Wir hatten damals nach langer Debatte festgestellt, dass wir erst ein Konzept entwickeln sollten, bevor wir ein BGE beschließen. Dieses sollte zumindest rudimentär durchgerechnet sein und einfachsten Betrachtungen standhalten.

Dazu ist seither wenig passiert. Am letzten Wochenende haben wir uns also entschlossen, dass wir ein solches Konzept erst mal nicht brauchen. Schlimmer noch. Wir haben nicht beschlossen, dass wir uns selbst um eines kümmern wollen. Nein, das wäre ja Arbeit. Wir haben beschlossen, diese Arbeit an eine Enquête zu delegieren. Irgendwann.

Seit 2009 habe ich mit Stolz an den Infoständen von einer Partei berichtet, die sich endlich nur noch um Dinge kümmert, von denen sie etwas versteht. Neue Themen würden erst ausgiebig analysiert werden, um dann mit einer fundierten Meinung auf den Wähler zuzugehen. Das haben wir mit dem BGE-Beschluss komplett über Bord geworfen. Argumente wie „das BGE bringt Stimmen“ oder „die Banken retten wir doch auch, Geld ist also da“ zeigten eine erschreckend opportune Sichtweise und eine auf Vereinfachungen reduzierte Debatte auf dem BPT.

Ja, ich kenne einige BGE-Modelle. Da gibt es welche, die zwar bezahlbar sind, aber ein Niveau bieten, das Hartz 4 wie ein Schlaraffenland aussehen lässt, während andere große Erwartungen wecken, aber schlichtweg nicht finanzierbar sind. Mittlerweile musste ich sogar schon Blogbeiträge lesen, in denen nach explizitem Hinweis auf jegliche Unkenntnis des Schreibers in wirtschaftlichen Belangen eine reine Meta-Diskussion um das BGE geführt wird. Es mache Menschen frei und alle würden glücklich.

Wenn man sich aber mal anschaut, warum Menschen auf Arbeitssuche deprimiert sind und krank werden, dann stellt man oftmals fest, dass es gar nicht mal das fehlende Geld ist, das diese in die Verzweiflung treibt. Es ist das Gefühl des Nichtgebrauchtwerdens, des Nichtgewolltseins. Die Erniedrigungen durch die ARGE. Es ist viel wichtiger, hierfür Lösungskonzepte zu erarbeiten. Man kann Menschen nicht einfach auf ein Abstellgleis stellen und meinen, durch eine Alimentierung würden diese glücklich. Wir müssen diesen Menschen eine Perspektive bieten.

Mit dem BGE-Beschluss wecken wir bei den Menschen eine Erwartungshaltung, die wir mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht werden erfüllen können. Es wird nämlich kein Nullsummenspiel erwartet, sondern die jetzt finanziell Benachteiligten hoffen auf einen vergrößerten Geldsegen. Das kann aber nur auf zwei Wegen passieren. Entweder drucken wir dieses Geld. Das hieße Inflation. Oder wir nehmen es jemandem weg. Dann sollten wir aber auch so ehrlich sein zu sagen, wem wir es nehmen wollen. Um diese Frage drücken wir uns aber und das ist unehrlich.

Für das BGE wird oft das Argument gebracht, dass es viele unbezahlte ehrenamtliche Aufgaben gäbe. Stimmt. Diese Arbeiten würde man mit einem per Gießkanne gezahlten Geld aber trotzdem nicht honorieren. Vielleicht sollte man eher darüber nachdenken, wie man solche Tätigkeiten, die sich z.B. der Betreuung oder Pflege von Kindern, Alten oder Bedürftigen widmen, vernünftig entlohnen kann. Das wäre Wertschätzung durch die Gesellschaft.

Der beschlossene BGE-Antrag hat zudem eine erschreckende inhaltliche Leere und zielt unter anderem darauf ab, durch Versprechungen Wähler zu ködern. Damit unterscheiden wir uns nur noch kaum von den Linken, auch wenn ein BGE nicht zwangsläufig links ist. Es geht um den Stil. Es ist eine „Wünsch dir was“-Politik. Durch den Beschluss soll die Partei besonders „progressiv“ wirken. Wenn progressive Politik aber bedeutet, dass man nur noch in Visionen schwelgt, anstatt handwerklich gute Konzepte vorzulegen, wäre das nicht mehr meine Partei. (Und ja, bis gestern war auch unsere Urheberrechtsposition nur eine Vision und ich habe bei vielen Infoständen und Podiumsdiskussionen dafür bluten müssen. Bitte nicht noch so eine Baustelle! Danke daher an dieser Stelle an die Piraten, die das Urheberrecht mit wunderbarem Inhalt gefüllt haben.)

Apropos Stil: Auf dem Parteitag wurde beantragt, die Abstimmung geheim durchzuführen. Die GO allerdings, die traditionell von kaum einem Piraten im Vorfeld wirklich gelesen wird, sah aber in dieser Frage eine Neuerung vor. Eine Abstimmung sei nötig, um mit einfacher Mehrheit eine geheime Abstimmung zu erlangen. Die offizielle Begründung war der Trollschutz. Ein Minderheitenschutz war nicht vorgesehen und dieser Fehler konnte durch einige davon entsetzte Piraten leider erst nach der BGE-Abstimmung korrigiert werden. Die Tatsache, dass man die wirklich aktiven Piraten, die im Presseraum oder an der Garderobe waren, nicht zählen wollte, ist nur das Sahnehäubchen. Bei einer geheimen Abstimmung hätte man diese übrigens nicht ignorieren dürfen. Buhrufe gegenüber dem Antragsteller der geheimen Wahl zeugten dann von einer kaum noch vorhandenen Demokratiekultur. Ich habe mich fremdgeschämt.

Ich muss zugeben. Das GO-Problem war auch mein Fehler. Ich hätte (und jeder andere Pirat auch) die GO vorher genauer studieren sollen, um solche groben Schnitzer im Vorfeld auszuräumen. GOs sind aber unsexy und das Vertrauen zu den wenigen Piraten, die diese schreiben, war groß. Ich werde bei kommenden Parteitagen genauer hinschauen. Versprochen.

Zurück zum BGE-Antrag. Der Antrag hat ja neben der Forderung nach einem BGE ohne genauere Definition und der Forderung, dass gefälligst andere – eine Enquête – die Arbeit machen sollen noch den Passus, dass dann ein bundesweiter Volksentscheid darüber richten soll. Zum einen gibt es diese bundesweiten Volksentscheide noch nicht, zum anderen ist es selbst auf Länderebene derzeit verboten, über Dinge entscheiden zu lassen, die gravierend in den Haushalt eingreifen. Wer sehen möchte, was passiert, wenn es diese Einschränkung nicht gibt, sollte mal schauen, warum Kalifornien pleite gegangen ist. Wir versprechen also einen Volksentscheid, der aus mehreren Gründen derzeit nicht funktionieren kann, ohne vorher mit großen Mehrheiten im Parlament an den Regeln gedreht zu haben. Natürlich kann man das fordern. Eine Umsetzung halte ich für äußerst unwahrscheinlich.

Das BGE sei übrigens alternativlos, weil uns bald die Arbeit ausginge, hört man immer wieder. Horden von Robotern werden in Zukunft unsere Arbeit machen, während wir nicht mehr wissen werden, wohin mit unserer Zeit. Das Problem: die Zahlen sprechen dagegen. Als Betriebsratsvorsitzender habe ich Kontakt mit vielen Firmen aus der Metallbranche und dort herrscht schon jetzt regelrechte Panik angesichts der Schwierigkeiten, noch Mitarbeiter zu finden (es werden sogar teilweise Prämien gezahlt, wenn Mitarbeiter neue Mitarbeiter werben). Die Abkehr von der 35-Stunden-Woche und damit Verlängerung der individuellen Arbeitszeit ist jetzt schon in vollem Gange. In rund 10 Jahren wird die Zahl der fertig werdenden Schüler um ein Drittel geschrumpft sein, während gleichzeitig aufgrund der Altersstruktur in den Betrieben große Teile der Belegschaft in die Rente verschwinden werden. Das mag nicht für alle Branchen gelten, aber an das grundsätzliche Verschwinden der Arbeit glaubt zumindest in der Metallindustrie so schnell niemand.

Die Zukunft

Was wird jetzt passieren? Die Mitgliederstruktur wird sich durch den BGE-Beschluss erheblich wandeln. Wir saßen in einer lauen Sommernacht im dunklen Raum und haben bei offenem Fenster das BGE-Licht angemacht. Nun werden viele davon angezogen und um diese Lampe kreisen, die sich noch nie mit unseren Zielen beschäftigt haben. Sie werden angezogen vom Versprechen auf Geld ohne Gegenleistung. Auch viele der nach der Berlinwahl eingetretenen Piraten gehören zu dieser Kategorie. Eines von vielen Beispielen ist die Initiatorin der BGE-Petition Susanne Wiest. Dem Spiegel sagte sie wörtlich „“In erster Linie bin ich Bürgerin, keine Piratin.“ Dieser Mitgliederzustrom ist auch einer der Gründe, warum der BGE-Antrag diesmal im Gegensatz zu Chemnitz durchging. Durch den jetzt stattfindenden Wandel der Mitgliederstruktur wird es auch kein Zurück mehr geben. Ich kann nur inständig hoffen, dass man in zwei Jahren noch Piraten an den Stammtischen findet, mit denen man über unsere ursprünglichen Kernthemen reden kann.

Gerade deshalb ist jetzt aber die Pro-BGE-Fraktion gefordert, Konzepte vorzulegen, die wir hinterfragen können. Sie müssen nicht im ersten Schuss perfekt sein. Sie müssen aber genug Substanz bieten, um vernünftig argumentieren zu können.

Um den Prozess zu unterstützen, möchte ich mich zusammen mit meinen Kollegen aus dem Landesvorstand dafür einsetzen, dass wir landesweit Treffen zu diesem Thema veranstalten. Dort soll Pro und Kontra diskutiert werden und bei möglichst vielen Piraten dafür gesorgt werden, dass sie überhaupt wissen, um was es da geht und was Vor- und Nachteile eines BGE sind. Wir müssen eine Grundlage schaffen und zwar bald. Ihr wolltet das Thema. Also beschäftigt Euch auch damit!

Im Vorfeld sollte jeder zumindest mal die Argumente im Wiki gelesen haben und sich die Aufzeichnungen des Dicken Engels zum BGE anhören. Die Links wären die folgenden:

http://wiki.piratenpartei.de/Bedingungsloses_Grundeinkommen
http://wiki.piratenpartei.de/Bedingungsloses_Grundeinkommen/Gegenrede

http://dickerengelmumble.de/ReSET & BGE 2011-11-23.ogg
http://dickerengelmumble.de/bge_2011_10_27.ogg
http://dickerengelmumble.de/bge_2011_10_27_michael_ebner.ogg

Ich unterstelle mal, dass auch alle, die gegen den BGE-Antrag gestimmt haben, der Ansicht sind, dass das jetzige Sozialsystem gravierende Mängel aufweist. Zumindest geht es mir so. Die Sanktionen und der von den Bedürftigen verlangte Datenstriptease sind widerlich. Wir müssen als Partei aber realistische und umsetzbare Lösungen entwickeln. Mit Luftschlössern ist niemandem gedient. Deshalb lasst uns das Thema ordentlich angehen und den Menschen zeigen, was wir können. Dazu müssen wir zusammen arbeiten, nicht gegeneinander. Wir haben doch dieselben Ziele. Nur über den Weg sind wir uns noch nicht einig. Die Beschlüsse zu Hartz 4 und der Zeitarbeit gehen schon in die richtige Richtung. Das stimmt mich hoffnungsvoll.

Lasst bitte die Piratenpartei auch 2013 noch die Partei sein, für die ich gern stundenlang am Infostand stehe, Plakate kleistere und die ich mit gutem Gewissen den Wählern empfehlen kann.

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